Sperlinge
Ihre Hand zitterte, ihre Gedanken waren zerstreut. Wieder war die Tasse mit Tee, dort wo sie sie hintragen wollte, kopfüber auf den Fußboden gefallen und zerbrochen. Gemeinsam mit der Tasse fiel auch ihr Herz klirrend auf den Fußboden und zerbrach in Stücke. Der süße Tee war vergossen.
Vom Flur war das zornige Gesicht ihrer Mutter zu sehen. Wenn die Mutter sich ärgerte, wurde ihr Gesicht so beängstigend, dass ihr fast das Herz stehen blieb.
Dieses furchterregende Gesicht der Mutter drängte sich auch immer wieder in ihre Träume. Sie kam mit eben diesem schrecklichen Gesicht, mit weit aufgerissenen Augen, mit eisernen Schritten wie ein Sturm auf sie zu ... Da schien ihr, der riesige Schatten der Mutter verbreitet eine endlose Nacht um sich, die Umgebung versinkt in dichte Finsternis. Ganz alleine fühlte sie sich in dem unheimlichen Schatten der Mutter, in dieser entsetzlichen Finsternis. Vor Angst und Schrecken zersprang ihr Herz in tausend Stücke, löste sich auf in kleine Wassertropfen ... Da ging die Mutter mit ihren großen, schweren Schritten auf sie zu und rollte über sie hinweg. Trat sie mit Füßen, zermalmte sie, wälzte sie auf dem Fußboden platt. Und sie selbst rief mit ohnmächtiger Stimmen die tausend kleinen Wasserpunkte, die sich am Fußboden verteilten, um Hilfe.
Auf einmal verspürte sie Sehnsucht nach ihrer Großmutter, wollte ihren Kopf, ihren ganzen Körper klein machen, so klein, dass er in eine Handfläche passen würde, und sich in Großmutters Bauch verkriechen, dort verstecken. Dachte, wenn ihr das gelänge, käme sie nie wieder heraus. Dort würde sie leben, ihre Schulaufgaben machen, schreiben, schlafen gehen und aufstehen ... Der Bauch der Großmutter war riesig und tief wie ein Ozean. Wenn sie wollte, könnte sie darin sogar Fahrrad fahren.
Die Mutter starrte noch immer von der anderen Seite des Flurs herüber. Starrte, presste die Zähne aufeinander, ballte die Fäuste, bis ihr die Haare zu Berge standen.
Wahrscheinlich wird sie sie schlagen. Sie wird kommen, ihre Haare packen und wie Papier zerreißen, sie kneifen, ihr die Knochen brechen.
Sie dachte, warum ihre Mutter nicht müde wurde, sie zu schlagen? Im Gegenteil, gerade beim Schlagen wurde sie noch kräftiger, ihre Laune, ja selbst ihre Gesichtsfarbe hellte sich auf. Als ob ihre Mutter irgendein Unrecht an ihr, an ihrem kleinen, mageren Körper rächte. Sie fragte sich, welches und wessen Unrecht da zu rächen war...
Beim Auflesen der Scherben dachte sie, ja, an ihrem Körper rächt die Mutter ein Unrecht. Worin aber bestand dieses Unrecht?
Manchmal reichte die Kraft der Mutter nicht aus, sie zu schlagen, dann lief sie in der Wohnung hin und her, fluchte über irgendjemanden, beschimpfte irgendwen.
Sie dachte, im Prinzip wollte ihre Mutter irgendetwas, aber das, was sie wollte, konnte sie nicht tun.
Was war es, was die Mutter eigentlich wollte?
Beim eiligen Auflesen der Scherben schnitten ihr die scharfen Glassplitter ins Fleisch, ihre Hände bluteten.
Eine Zeit lang atmete die Mutter tief, starrte sie von Weitem an. Offensichtlich hatte sie keine Lust, sie zu schlagen. Entweder war sie müde oder das Blut auf ihren Händen hatte ihren Zorn abgekühlt...
„Hast du dich verbrannt?“
Die Stimme der Mutter war wie immer trocken und nüchtern. Zitternd stand sie auf, die Scherben in ihrem Rock, ging sie in die Küche. Beim Gehen bohrten sich die vielen vergifteten Pfeile aus den hasserfüllten Augen der Mutter in ihren Rücken.
Sogar aus dem anderen Zimmer konnte die Mutter diese Pfeile auf sie schießen. Wenn sie mit beiden Händen zornig auf ihre schwarze Schreibmaschine einhämmerte, kam es ihr vor, als ob sie sie beschoss.
Selbst in ihren Träumen beschoss die Mutter sie. Sie stieg dann auf ihre schwarze Schreibmaschine wie auf einen Panzer und ratterte auf sie zu. Drückte auf die Tasten der Schreibmaschine, füllte ihren Körper mit Kugeln, durchlöcherte sie wie ein Sieb. Und sie schaute auf ihren verwundeten Körper, es waren nicht Kugeln, die in ihrem Fleisch steckten, sondern Buchstaben, pechschwarz wie die Maschine selbst. Mit ihrem ganzen Körper, ihren Armen und Beinen, von Kopf bis Fuß stak sie inmitten von schwarzen Buchstaben. Sie flüchtete irgendwohin, versteckte sich mit klopfendem Herzen vor der Mutter. Dann bemerkte sie, dass das, worin sie sich versteckt hielt, ein riesengroßes Ypsilon war.
Sie stand auf, den Rock mit Scherben gefüllt, ging mit aneinanderreibenden Knien in die Küche, leerte den Rock dort aus, dabei auf Geräusche aus dem Gang konzentriert, schüttelte ihn aus, putzte ihn, sammelten geduldig winzige Punkte, die Glasscherben, einzeln von den Armen in ihre Handfläche.
Die Mutter war noch immer im Flur, vor Zorn schnaubend, ihr Atem füllte den Gang, floss in schweren Wellen in die Küche, kreiste sie ein.
Einmal war ihr die Mutter im Traum ganz schrecklich erschienen. Der Traum begann damit, dass die Mutter mit dem Rücken zu ihr, das Gesicht zum Fenster, dasaß. Sie schlich sich auf Zehenspitzen an, rief die Mutter, die aber gab keinen Laut von sich, schaute aus dem Fenster, die Hände auf den Knien, ohne eine Miene zu verziehen, irgendwohin, in die Ferne. Da berührte sie die Mutter an der Schulter. Wie ein ausgehöhltes Tier fiel sie kopfüber auf den Fußboden, gab ein langgezogenes „mäh“ von sich, wie ihre kopflose Puppe. Als sie vor Angst weinend die Mutter wieder aufsetzen wollte, löste sich ein Arm, der Kopf fiel herunter. Am ganzen Körper zitternd klaubte sie die Arme und Beine der Mutter auf, brachte sie in ihr eigenes Zimmer. Mit tauben Gliedern breitete sie sie dort blitzschnell auf dem Fußboden aus, versuchte, sie neu zusammenzusetzen. Sie reparierte und reparierte, aber es gelang ihr nicht.
Die Tür zum Zimmer der Mutter wurde zugeschlagen, und es dauerte nicht lange, bis das zornige Klappern der Schreibmaschine zu hören war.
Sie seufzte und atmete erleichtert auf.
Sie überlegte, was ihre Mutter wohl immer schrieb.
Einmal hatte sie sich in Mutters Zimmer hineingestohlen, hatte die aufeinandergestapelten, beschriebenen Blätter gelesen, hatte trotz Verstand überhaupt nichts verstanden. Die Mutter schrieb irgendetwas über Sperlinge...
Sie dachte, vielleicht liebt die Mutter Sperlinge? Oder die Mutter ist auch ein Sperling, und liebt sie deshalb nicht? Oder vielleicht andersherum:
Sie liebt sie nicht, weil sie kein Sperling ist?
Oder vielleicht liebte die Mutter sie doch? Ja, manchmal kam es ihr so vor. Vor allem, wenn sie krank war. Besonders wenn sie unter hohem Fieber litt. Da klapperte die Mutter nicht mehr mit der Schreibmaschine, rührte diese nicht an, sondern starrte lange Zeit mit nachdenklichen Augen auf einen Punkt, setzte sich mit müdem Gesicht neben ihr Bett, beobachtete sie mit liebevollen Augen, berührte hin und wieder mit kühlen Lippen ihre heiße Stirn und prüfte ihre Temperatur. Und dann spürte sie an den Lippen der Mutter keine Wärme. Mit denselben kühlen Lippen prüfte die Mutter die Temperatur des eisernen Bügeleisens, prüfte die Feuchtigkeit der frischen Wäsche, wenn sie sie von der Leine nahm.
Sie dachte, womöglich würde die Mutter sie mehr lieben, wenn sie tot wäre. Dann stellte sie sich vor, sie würde sterben, in den Sarg gelegt werden, die Mutter würde über ihrem Sarg zusammenbrechen und laut schluchzend weinen.
Die Mutter würde mit ihrem ganzen Gewicht auf sie fallen. Sie würde die Schwere, die Wärme und den Geruch der Mutter spüren und einschlafen.
Das stellte sie sich in letzter Zeit immer wieder vor. Das tat ihr gut.
Hätte sie nicht Angst vor dem Sterben und wäre sie nicht sicher, wieder lebendig zu werden, so würde sie sterben. Ja, wahrscheinlich wäre sie dann längst tot. Sie dachte daran, seufzte, verschränkte die Hände, setzte sich und dachte lange darüber nach, was der Tod sei. Der Tod – und das war eigenartig – stellte nicht Finsternis dar. Er war neblig, strahlend weiß und kalt wie ein Frühlingsmorgen. Was würde sie dort, in diesem dichten Nebel, so klein wie sie sich fühlte, wohl machen? Herumsitzen, herumliegen, oder aber Flügel bekommen und ein Sperling werden?
Sie konnte es sich nicht vorstellen. Und wie würde sie von hier, diesem hellen Zimmer, bis dorthin, an jenen nebligen Ort, gelangen?
Würde es irgendwo schmerzen, würde ihr die Luft wegbleiben, oder aber würden ihre Arme und Beine in einem Wirrwarr wie Hackfleisch durch den Fleischwolf gedreht werden? Dieser Gedanke erschreckte sie.
Während sie grübelte, brach der Abend herein, das Licht im Zimmer wurde dunkler.
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und schaltete das Licht ein. Die Mutter würde um sie weinen, laut schluchzend, ganz so wie eine Verrückte würde sie heulen.
So weinend hatte sie die Mutter beim Tod der Großmutter erlebt. Die Mutter hatte damals die Arme um den Sarg geschlungen und mit erstickter Stimme „Mamaaaa …!“ geschrien.
Dann stellte sie sich vor, die Mutter würde sterben. Mit bleichem Gesicht, geschminkten Augen, demselben Ausdruck der Ungeduld im Gesicht würde die Mutter im Sarg liegen. Und sie – sie würdeganz nahe neben dem Sarg sitzen und die Wangen der Mutter so viel sie wollte streicheln.
Bei diesem Gedanken konnte sie nicht anders, sie musste weinen. Die Mutter ging lautlos durch den Flur in die Küche. Wahrscheinlich kochte sie sich dort Kaffee. Dann ging sie mit der Tasse in der Hand in ihr Zimmer zurück, das Klappern der Schreibmaschine war nicht mehr zu hören.
Sie dachte, wie eigenartig, ihr schien es, als ob die Mutter nie alleine wäre. Sowohl, wenn sie stundenlang in ihrem Zimmer saß, als auch, wenn sie nachdenklich durch den Flur ging, als auch, wenn sie ihr gegenüberstand, anscheinend war die Mutter in Gedanken immer mit irgendjemandem, mit irgendetwas beschäftigt. So kam es, dass sie weder die langen, sich hinziehenden Stunden noch die mörderische Stille in der Wohnung bemerkte.
Sie kauerte sich in eine Ecke des Sofas, dachte nach, womit die Mutter in Gedanken wohl beschäftigt wäre?
Im anderen Zimmer war es still. Sie dachte, was die Mutter dort in diesem Augenblick wohl mache? Dachte nach, ob die Mutter vielleicht stundenlang dort, in diesem verschlossenen Zimmer, alleine dasaß und überhaupt nichts tat, einfach nur dasaß und auf die Wand starrte?
Die Mutter ging in ihr Zimmer, als ob sie sich dort vor jemandem versteckte. Versteckte sie sich vor ihr oder vor ihrem Vater, das war für sie nicht eindeutig. Einmal, als die Mutter mit dem Vater über irgendetwas gestritten hatte, riss sie ihre Augen weit auf und sagte mit aufgebrachter Stimme „Lass mich! Lass mich wenigstens in Frieden sterben!“
Sie selbst hatte damals den Kopf in das Polster vergraben und geweint.
Sie dachte nach, vielleicht war die Mutter damals ehrlich gewesen. Sie ging in dieses Zimmer, um zu sterben, und vielleicht starb sie dort einfach?
Genau, die Mutter wollte sterben. So viel war sicher.
Sie dachte dann darüber nach, warum die Mutter sterben wollte.
Vielleicht waren es diese beschriebenen Seiten, die Tag um Tag vergilbten, die sie Tag und Nacht wie eine Verrückte schrieb, wegen derer sie auf sie beide so zornig war, die die Mutter umbrachten.
Auch der Vater hasste diese entsetzlichen Schriften, so viel wusste sie. Einmal hatte es der Vater ausdrücklich gesagt. Ziemlich spät in der Nacht war er aufgestanden, hatte die Tür zu Mutters Zimmer geöffnet und gesagt: „Ich hasse deine Schreinereien.“
Sie dachte, wie eigenartig, dass die Mutter eigentlich gar nichts tat und anscheinend dem Vater zugleich etwas antat. Ja, das war eigenartig.
Sie dachte dann, dass die Mutter auch den Vater von ihrem Zimmer aus, von der anderen Seite der Wand aus mit ihrer Schreibmaschine unter Beschuss nahm.
In letzter Zeit schaute der Vater die Mutter mit traurigen Augen an, so etwa, als hätte er Zahnschmerzen. Einmal hatte er sogar seine Medikamente abgesetzt, hatte Fieber bekommen, musste im Bett liegen, hatte stöhnend die Mutter gefragt: „Tue ich dir denn nicht leid?“
Der Mutter tat er nicht leid. Nicht einmal, wenn er krank war. Ja, vielmehr ...
Daran dachte sie, dann fröstelte es sie. Ja, selbst wenn der Vater sterben würde, täte es der Mutter nicht leid. Einmal war der Vater zornig geworden und hatte „Wäre ich tot, dann wäre ich wenigstens erlöst!“ gerufen, die Mutter hatte mit jenem stets gleichbleibend ausdruckslosem Gesicht, ohne die Stimme zu heben, gesagt: „Du stirbst aber gar nicht“, und da hatte sie begriffen, was die Mutter eigentlich wollte.
Während sie nachdachte, verspürte sie in den Adern ein kühles Kribbeln.
Die Stille brachte fast ihr Trommelfell zum Platzen.
Einmal, als auch über das Zimmer der Mutter diese Stille herein gebrochen war, hatte sie auf Zehenspitzen die Tür einen Spalt geöffnet, was sie dann sah, hatte sie in Erstaunen versetzt.
Die Mutter saß vor dem Spiegel und betrachtete sich selbst, ohne sich zu bewegen, ohne etwas zu sagen. Lange Zeit betrachtete die Mutter aufmerksam sich selbst, legte dann den Kopf auf die Arme und weinte.
Egal, wie viel sie seit diesem Tag darüber auch nachgedacht hatte, sie konnte nicht begreifen, warum die Mutter so geweint hatte.
Sie überlegte, ob die Mutter vielleicht jetzt wieder weinte? Dann glaubte sie aus dem anderen Zimmer ein schluchzen zu vernehmen. Ihr Herz begann zu klopfen.
Sie stand auf, schlich leise auf Zehenspitzen in den Flur, zur Tür von Mutters Zimmer, öffnete diese einen Spalt breit.
Die Mutter stand mit verschränkten Armen vor dem Fenster und betrachtete irgendetwas. Sie hatte ihr Kommen bemerkt und sich umgedreht: „Was ist los?“
„Nichts, ich habe gedacht, du weinst.”
„Ich weine nicht“, sagte die Mutter mit ruhiger, nüchterner Stimme. „Außerdem habe ich genug davon, dass du mir nachspionierst.“
Vor dem Fenster, an dem die Mutter die ganze Zeit stand, waren lauter Sperlinge. Die Mutter hatte also die Sperlinge beobachtet?
Sie ging auf den Flur, schloss die Tür, stellte sich vor den Spiegel und betrachtete lange Zeit aufmerksam ihr Gesicht, ihre Augen, ihren Mund.
Einem Sperling ähnelte sie überhaupt nicht.
Sie dachte, eigentlich müsste die Mutter sie wenigstens einmal am Tag küssen oder zumindest einmal in ein paar Tagen. So wie sie sie als Kleinkind geküsst hatte ... Wahrscheinlich hatte sie davon
genug, sie zu küssen.
Gut, wenn sie vom Küssen genug hatte, dann sollte sie sich wenigstens mit ihr an einen Tisch setzen und sich mit ihr beschäftigen.
Lediglich am Morgen saßen sie miteinander an einem Tisch und unterhielten sich.
Die Unterhaltung verlief ungefähr so:
„Du bist wieder so dünn wie ein Strich.“
Das sagte die Mutter. Sie zuckte mit den Schultern und lächelte.
„Warum isst du denn nicht ordentlich?“
„Ich habe keinen Appetit.“
„Hast du gestern nicht eine Zensur bekommen?“
„In Literatur habe ich eine Fünf bekommen.“
Auf diese Antwort verzog die Mutter keine Miene: „Bravo.“
Dann ging die Mutter mit eben diesem ausdruckslosen Gesicht, ihre Gedanken bei den Sperlingen, zur Arbeit. Oder ging sie etwa zu den Sperlingen?
An den Abenden war ihre Mutter für gewöhnlich sehr nervös. Zuerst zog sie sich aus, legte sich eine Weile mit geschlossenen Augen ins Schlafzimmer, aß dann irgendetwas im Stehen in der Küche, ging wieder in ihr Zimmer und schrieb weiter, wahrscheinlich über Sperlinge.
Sie dachte, dass die Mutter seit geraumer Zeit irgendetwas tun wollte. Was hatte die Mutter wohl vor? Vielleicht wollte sie die Sperlinge vermehren.
Sie überlegte dann, wozu das wohl dienen würde?
Es durchströmte sie unangenehm lauwarm. Etwas bedrückte sie. Sie presste den Kopf so weit wie möglich ins Sofa und weinte lautlos. Es verging nicht viel Zeit und die Schreibmaschine begann wieder zu klappern. Also beschoss die Mutter wieder jemanden, irgendjemand anderes.
Wenn die Mutter auf der Schreibmaschine schrieb, schien sie die ganze Welt zu vergessen. Ihr Gesicht veränderte sich, ihre Haare standen zu Berge, ihre Fingerspitzen verwandelten sich in harte Federn, sie selbst ähnelte irgendeinem wilden Tier.
Ja, das war es. Einem Löwen. Beim Schreiben ähnelte die Mutter einem Löwen.
Sie stand auf, ging zum Fenster. Es wurde Abend. Ein bisschen später würde die Mutter mit nüchterner Stimme „Schlafenszeit“ rufen, und sie würde auf diesem unförmigen Sofa, in diesem lang gezogenen Zimmer, in der Finsternis ausgestreckt daliegen, an die Decke starren und lange, lange darauf warten, dass sie einschliefe.
Endlich eingeschlafen, würde sich die Mutter in ihre Träume drängen.
Im Traum war die Mutter manchmal liebevoll. Anstatt mit der Schreibmaschine klapperte sie dann mit einer Nähmaschine, nähte ihr unaufhörlich rosa und orangefarbene Kleider. Dann zog sie ihr diese Kleider an, nahm sie auf den Schoss, streichelte ihr die Haare. Bei diesem streicheln fielen ihr die Haare aus. Die Haare fielen ihr auf die Knie, auf den Fußboden, blieben in den Händen der Mutter hängen. Merkwürdig, beim Ausfallen der haare verspürte sie keinen Schmerz, im Gegenteil, sie schlief dabei ein.
Knirschend öffnete sich die Tür. Vom Flur fiel ein Lichtstreifen herein. Es war die Mutter, die kam. Sie steckte zuerst den Kopf herein, zog dann den Körper nach, ging auf Zehenspitzen durch das Zimmer, stellte sich zu ihr ans Kopfende des Bettes. Stand eine Zeit lang da, ohne sich zu bewegen, ohne etwas zu sagen. Als wollte sie schauen, ob sie eingeschlafen war.
Obwohl ihr Herz vor Angst klopfte, traute sie sich nicht, die Augen zu öffnen. Nachdem ihre Mutter eine Zeit lang so dagestanden war, beugte sie sich und flüsterte in ihr Ohr: „Spionierst du mir schon wieder nach?“
Aus Angst schüttelte sie mit geschlossenen Augen den Kopf, sagte: „Nein.“ Da presste ihr die Mutter die Hand so auf Nase und Mund, dass sie keine Luft mehr bekam und sie auffuhr.
Das Buch rutschte von ihren Knien und fiel auf den Fußboden.
„War sie eingeschlafen, oder was?“
Es fröstelte sie wieder und sie verschränkte die Arme. Der Gedanke, der sie plötzlich durchfuhr, rüttelte sie auf. Sie sprang vom Sofa auf, lief ins andere Zimmer, öffnete die Tür einen Spalt breit und steckte ihren Kopf hinein.
Die Mutter schrieb wieder irgendetwas, während ihre Augen dabei liebevoll leuchteten, sie bemerkte ihr Kommen nicht.
Sie fasste sich ein Herz, ging hinein, und stellte sich direkt vor die Mutter. Als die Mutter sie bemerkte, verschwand das liebevolle Leuchten aus ihren Augen.
„Was ist los?“, fragte sie, schob sich die Brille auf die Stirn, und schaute sie verärgert an.
„Ich bin krank.“
Die Mutter setzte sich auf, legte ihr die kalte Hand auf die Stirn.
„Fieber hast du keines“, sagte sie, und schaute sie mit dem ihr bekannten ausdruckslosen Gesicht an.
„Vielleicht sollte ich Fieber messen?“
„Nicht notwendig.“
„Aber es wird steigen“, sagte sie und schaute der Mutter in die Augen. Zwar veränderte sich der Gesichtsausdruck der Mutter nicht, aber sie schien doch etwas mehr Farbe zu bekommen.
„Wenn es steigt, dann schauen wir.“
Sie senkte den Kopf und wollte hinausgehen. Dann überlegte sie es sich anders und drehte sich um: „ich fühle mich elend ... Mir ist schlecht, ich friere ...“
„Iss eine Zitrone und zieh dich warm an.“
Die letzten Worte sagte ihre Mutter wie ein Roboter.
Sie ging aus dem Zimmer, schloss die Tür. Ballte ihre Fäuste und presste sie fest zusammen, ging zurück in ihr Zimmer und öffnete die Fensterläden. Das Fenster war voller Sperlinge, sie machte „Prrr“
Um sie zu verscheuchen, sie stoben in die Luft. Wenn es auch schon Frühling war, so merkte man noch die winterliche Kälte in der Luft.
Eine Zeit lang blieb sie so stehen, mit ihren dünnen Kleidern, zitternd vor Kälte, ließ den Wind durch die Haare fahren und dachte, dass sie doch so krank werden sollte, dass die Quecksilbersäule des Fiebermessers über die Anzeige hinausschnellte und das Glas zerspränge. Oder sollte sie sich hinunterstürzen? Dann würde die Mutter die Treppen kreischend, weinend, mit fliegenden Beinen hinunterlaufen, zu ihr stürmen. Oder vielleicht würde sie gar nicht in den Hof gehen? nur wegen des Geschreis und Lärms von unten aufstehen, aus dem Fenster schauen, mit diesem Gesicht, das von der ganzen Welt genug hat, sich aufrichten, sich die Brille zurechtrücken. Und sich wieder hinsetzen und wie eine Verrückte weiterschreiben.
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und lehnte sich hinaus. Ihr wurde schwindlig, sie verlor das Gleichgewicht, verlor fast den Boden unter den Füßen, beinahe wurde sie wie ein Speer hinuntergeschleudert und in die Erde gebohrt. Sie hielt sich am Fensterbrett fest und schob sich mit Gewalt zurück, schloss das Fenster, fast sprang ihr Herz von seinem Platz, und sie kauerte sich wieder auf das Sofa.
Vor dem Fenster tummelten sich wieder unzählige Sperlinge, die das trockene Brot, welches die Mutter jeden Morgen auf das Fensterbrett streute, aufpickten. Ruckartig wackelten sie dabei mit den Köpfen hin und her, hüpften aufeinander und übereinander, als wollten sie Ənzǝli tanzen. Hin und wieder schauten sie sie an, mit ihren kleinen Köpfen, von der anderen Seite der Fensterscheibe, ohne sich zu bewegen, ohne etwas zu sagen, und es war, als ob sie lächelten.
Jeden Morgen ging die Mutter, sobald sie aufgestanden war, mit verschlafenem, bleichem Gesicht direkt in die Küche, holte dort Brotröster, ging von einem Zimmer ins andere, öffnete die Fenster, zerrieb das trockene Brot zwischen den Handflächen, lehnte dann den Kopf an die Fensterscheibe und beobachtete mit diesem verschlafenen Gesicht die Sperlinge beim Picken.
Das Gezwitscher der Sperlinge mischte sich in das Klappern der Schreibmaschine aus dem anderen Zimmer und verwandelte es zu einer sonderbaren Musik.
Es fröstelte sie, sie stand auf, näherte sich wie eine Katze auf der Jagd langsam dem Fenster, schob den Riegel mit einer lautlosen Bewegung, wie unter Wasser, auf, öffnete den Fensterladen. Die Sperlinge waren zum Greifen nah. Sie kümmerten sich nicht um sie, zwitschernd hüpften sie auf und ab. Ruckartig schlug sie mit der Hand auf das Fensterbrett. Die Sperlinge stoben blitzartig in die Luft.
Ihre Hand war nicht leer. Einer der Sperlinge war ihr in die Hände geraten. Sie spürte den warmen, weichen Körper des Sperlings in ihrer Hand, darauf saß der Kopf in Kichererbsengröße, mit winzigen, schwarzen Augen starrte er sie an, ohne sich zu bewegen, ohne etwas zu sagen, und wieder schien es ihr, als ob er lächelte.
Pechschwarzes, bitteres Gift durchströmte ihren Körper, sammelte sich in der Hand, in der sie den Sperling hielt. Als sie die Hand fest zusammendrückte, fiel der kleine Sperlingskopf mit einer leblosen Bewegung nach hinten.
Sie drehte den toten Sperling in ihrer Hand hin und her und betrachtete ihn aufmerksam. Das Lächeln von vorhin war noch immer in seinem Gesicht. Trotzdem drehte sie den Kopf mit zwei Fingern, so wie man einen Schlüssel dreht, und riss ihn ab. Sie trug ihn weg, warf ihn in den Mülleimer in der Küche. Wieder in ihrem Zimmer, bemerkte sie, dass ihr die Knie zitterten. Sie setzte sich aufs Sofa und betrachtete ihre Hände. Auch ihre Hände zitterten.
Es verging nicht viel Zeit und der Vater kam. Seine Laune war wieder einmal schlecht. Offensichtlich hatte er getrunken. Mit stacheligem Gesicht küsste er sie, stolperte ein wenig und setze sich dann wie immer vor den Fernsehapparat.
Sie kam, setzte sich neben den Vater, legte den Kopf an seine Brust. Das Hemd des Vaters war feucht.
„Die Wohnung ist schrecklich kalt“, sagte der Vater, küsste sie dann auf den Kopf. Der Vater roch nach Schweiß.
Am anderen Morgen war das Geklapper der Schreibmaschine verstummt. Auch der Fernseher machte kein Geräusch. Als ob niemand zu Hause wäre.
Sie stand aus dem Bett auf, schlüpfte in ihre Pantoffeln, und ging, sich streckend, durch den Gang. Die Tür zum Zimmer der Mutter stand offen. Sie lehnte sich hinein.
Es war, als hätte sich das Zimmer verändert. Die Schreibmaschine war verschwunden, der Schreibmaschinentisch stand an einem anderen Platz, stand wie ein unnötiger Gegenstand in einer Ecke. Auch der Spiegel, in dem sich die Mutter stundenlang betrachtete, war weg. Überhaupt war im ganzen Zimmer kein Gegenstand, der der Mutter gehörte. Nur der Lehnstuhl der Mutter stand in der Mitte des Zimmers und darin saß jetzt der Vater. Er verbarg sein stacheliges Gesicht in den Händen und rauchte eine Zigarette, bemerkte ihr Kommen und richtete sich auf. Da sah sie, dass die Augen des Vaters ganz rot waren.
„Wohin ist sie gegangen?“
Der Vater zuckte mit den Schultern, sah sie mit einem unglücklichen Gesichtsausdruck an.
„Ich weiß es nicht.“
Dann umarmten sich Kind und Vater und saßen da, ohne sich zu bewegen, ohne etwas zu sagen.
Vor dem Fenster war es ruhig, kein Gezwitscher der Sperlinge mehr.
Sie begriff, dass ihre Mutter sie verlassen hatte und auch, wohin sie gegangen war. Sie musste weinen.
Die Mutter war zu den Sperlingen gegangen.