Die deutsche Kirche
„Ich bin doch selber schuld...“, sagte ich und spürte, wie mir Wut den Hals
zuschnürte. Ich weiß nicht, ob ich eine Grimasse schnitt oder die restlichen Worte fast verschluckte, warum auch immer, jedenfalls verzog die Direktorin bedauernd das Gesicht.
„Ehrlich gesagt hätte ich nicht ahnen können, dass dieses Kind so eine musikalische Begabung hat. Es hatte doch nicht mal Lust zum täglichen Unterricht, zum Singen...“, so konnte ich meine Worte, wenn auch vor Wut unter Anstrengung, zu Ende sprechen. Die Direktorin zog ihre Augenbrauen hoch und errötete leicht:
„Sie müssen sich keine Vorwürfe machen. Es geht hier ja nicht darum,
einen Schuldigen zu suchen“, sagte sie. „Wissen Sie, die meisten genialen Musiker hatten keine musikalische Ausbildung. Wenn das Kind eine Begabung hat – und ich bin sicher, das hat es, und zwar jede Menge – wird sie schon zum Vorschein kommen.“ Rena saß am riesigen Klavier, wie immer mit gebeugtem Rücken, und während die Direktorin sprach, schaute sie verstohlen mal zu mir, mal zu ihr. Sie erinnerte mich an ein Kälbchen. So nannte ich sie auch manchmal: ”Kälbchen...”
Die Direktorin, um sich meinen direkten Blicken zu entziehen, stand auf und ging zum Klavier. Sie nahm Renas Finger in ihre Hände und knetete sie wie Teig.
„Schauen Sie sich das doch mal an... Diese Finger sind wie für Klaviertasten geschaffen!“ rief sie, dann legte sie die Finger des Mädchens auf die Tasten des Klaviers und sagte liebevoll:
„Spiel das Vorige noch einmal, mein Kind.“
Rena richtete ihren Blick nach vorn, streckte ihren Rücken, spannte ihre kleinen molligen Finger an und begann, Mozarts kompliziertes Requiem zu spielen.
Während die zauberhaften Musikwellen das Zimmer fluteten, schloss die Direktorin ihre Augen, führte ihre rechte Hand in der Luft hin- und her und spielte auf den Tasten eines unsichtbaren Klaviers das Requiem mit Rena zusammen. Einige Zeit später öffnete sie die Augen und sagte zu den rechts von mir sitzenden Lehrern:
„Können Sie sich das vorstellen? Hören Sie mal hin… da spielt ein
vierzehnjähriges Kind, das keine einzige Note kennt, keine Musikausbildung hat“, - es schien fast so, als wäre sie den Tränen nahe. Auch wenn Rena nichts davon hörte, spielte sie sich mehr und mehr in einen Rausch, bewegte ihre kleinen Finger immer geschickter, als wollte sie die Begeisterung der Anwesenden rechtfertigen.
Als das Stück zu Ende ging, saß die Direktorin schon wieder auf ihrem Platz, das Kinn auf die Hände gestützt, und schaute gedankenverloren zu einem unbekannten Punkt im Zimmer.
„Ich denke, der einzige Weg, dieses Mädchen in die Musiksphäre einzuführen,
wäre eine Gesangsausbildung“, sagte eine der neben mir sitzenden Lehrerinnen, eine ältere, magere Frau, deren goldfarbener Brillenrahmen ihr in den tiefen Falten an der Wange saß, und schaute mich an. „Hier kann keine Rede von Spieltechnik sein. Die Finger sind auf dem Nullniveau. Ja…“, die Lehrerin schnitt mit einer Handbewegung die Direktorin ab, weil sie merkte, dass diese etwas einwenden wollte – „ich gebe Ihnen vollkommen Recht, eine gewisse Plastizität in den Fingern ist vorhanden, aber sie fühlen die Tasten nicht; statt darauf wie eine Ballerina auf Zehenspitzen zu stehen, wandern sie schaukelnd. Mit einem Wort, der Zug ist abgefahren. Deshalb lassen Juden ihre Kinder sich ja in den Bereichen Musik, Ballett, Sport etc. probieren, um solche Probleme zu vermeiden.“ Als die Lehrerin zu Ende gesprochen hatte, schaute sie mich triumphierend an und auch wenn mich die Worte der Lehrerin betrübten, ließ ich mir nichts anmerken, drehte mich zu Rena und lächelte sie an.
Rena saß am Klavier wie ein ahnungsloses Kälbchen und schaute mich und die Lehreran. Es schien, als verstünde sie nicht, ob das Gesprochene gut oder schlecht für sie war.
* * *
Als wir hinausgingen, kam uns eine Gruppe von Kindern entgegen, die in ihren Händen verschiedene Etuis von Musikinstrumenten hatten. Der verstohlene, neidvolle Blick, den Rena ihnen hinterherwarf, ärgerte mich und ich tippte ihr auf den Rücken:
„Streck deinen Rücken gerade,“ sagte ich, und wir machten uns auf den Weg.
Rena hob den Kragen ihres Mantels hoch und schritt wortlos neben mir her. Es war schwer zu verstehen, was ihr durch den Kopf ging. Wahrscheinlich dachte sie über ihre Mühe nach, wie sie in den letzten zwei Jahren mühevoll, Finger für Finger das Requiem gewählt und gelernt hatte. Und ich dachte an ihre Kindheit, ihre Gleichgültigkeit der Schule, der Musik, dem Buch gegenüber, an ihre Vorliebe für Süßes, für Schokolade, für den Schlaf, und schien mich so von der Verantwortung für diese für uns beide peinliche Situation freisprechen zu können.
Eigentlich begann alles vor zwei Jahren – an einem weit entfernten, sonnigen Ort, als ich mit der in ihrer kindlichen, naiven Welt lebenden Rena in die deutsche Kirche gegangen war, die sich an einer der zentralen Straßen der Stadt vom überfüllten Bürgersteig einen Schritt zurückzog, sich zwischen Hochhäusern versteckte, mit einem fast bis zu den Wolken reichenden Turm, den man von Weitem sehen konnte.
Auf diesem von der deutschen Kirche organisierten Konzertabend beobachtete ich mit Seitenblicken, während das kleine Geigenorchester Werke von Bach, Mozart und Vivaldi spielte, den verzauberten, regungslosen Zustand von Rena, als ob irgendwo, aus irgendwelcher göttlichen Höhe herabsteigende Musik sie in eine Art Schwerelosigkeit versetzt hätte; ich konnte mir nicht einmal denken, womit dieser Zustand enden und welche Veränderungen er in ihrer kleinen, kindlichen Seele hervorrufen würde. Die gewöhnlich in Theater und Konzerten Popcorn oder Chips kauende, in Kinos dösende Rena kam hier auf die Spur von etwas, tastete in geheimnisvollen Leeren nach etwas Unbestimmtem, dies konnte man in ihren weit geöffneten Pupillen sehen – die irgendwo weit weg, außerhalb der Bühne, unbekannte Landschaften beobachteten. Als wir abends nach Hause kamen, setzte sich Rena ans Klavier und ließ einzelne Tasten klingen. Seit jenem Abend saß sie täglich stundenlang am Klavier. Während sie die ersten Tage noch vorsichtig Finger für Finger über die Tasten spazieren ließ, wie über einen Sumpf, fing sie nach ein paar Monaten an, mit komplizierten Akkorden Mozarts Requiem zu spielen.
Am Morgen ließen die gewaltigen, sehnsuchtsvollen Klänge des Requiems unsere Wände erzittern, gleichsam klangen die Abende aus.
So vergingen die Tage, und wir alle erfreuten uns an Renas unerwarteter Begabung, ließen uns von dieser Freude mitreißen, gingen mit dem Requiem ins Bett und standen damit auf. Und irgendwo tief in mir begann ich zu verstehen, dass irgendein Prozess einsetzte, dass unser Leben sich langsam veränderte, dass diese geheimnisvolle, unser Zuhause, unsere Seele beherrschende Musik, jedem einzelnen von uns etwas suggerierte… Aber erst viel später verstand ich, dass dies eine für Mensch und Seele tornadoähnlich schreckliche, zerstörerische Welle war, die sich seit jeher in einer Ecke unseres Hauses versteckt gehalten hatte und sich jetzt in Fleisch und Blut verwandelte und aufbäumte.
***
„Ich wusste, dass es so kommen würde“, sagte ich, um die Stille zu durchbrechen, während ich Rena am Arm hielt und sie über die Straße führte. Rena antwortete nicht, ein Schatten von Trauer lag auf ihrem Gesicht. Sie ging schlurfend neben mir her, an den langsamen Schritten konnte man erkennen, dass sie zurückbleiben wollte.
Ich wechselte das Thema und erzählte Rena über ihre vielversprechende Zukunft wie bei anderen Jugendlichen, über die Vorteile anderer Berufe und über ihre möglichen Erfolge in diesen Bereichen.
Rena hatte Schatten unter den Augen und ihre Nase schien, als wäre sie länger geworden. Und so erinnerte ihr Gesicht an einen altgriechischen Philosophen…
An diesem Abend ging Rena nicht mehr zum Klavier. Sie zog sich in ihr Zimmer zurück und lag bäuchlings auf der Couch.
Wegen Renas tiefer Trauer hatten wir am Abend Stromausfall bis zum nächsten Morgen. Die ganze Nacht mussten meine ältere Tochter und ich bei Kerzenlicht in der Küche verbringen. Auch wenn wir das Erzittern des tragischen Sturms im finsteren Zimmer von Rena in der kalten, einsamen Finsternis der Küche spürten, trauten wir uns nicht, zu ihr zu gehen.
Beim Frühstück hatte Rena noch immer Schatten unter den Augen. Ihr Antlitz war bleich, ihr Gesicht war in der Nacht dünn und lang geworden. Sie ließ sich nichts anmerken, mit ihrer von der Niederlage gedämpften Stimme erzählte sie von den bekanntesten Opern der Welt, von Opernliteratur, körperlichen Voraussetzungen der Opernsänger und Ähnlichem und kaute dabei etwas.
Und ich begriff, dass sie das Schicksal eines Schiffes erlebte, das gezwungen war, seine Fahrtrichtung zu ändern, dass sie, um ins Requiem von einer anderen Seite einzutauchen, sich mit dem Wechsel vom erfolglosen Klavierspiel zum Gesang beschäftigte; ich verstand, warum ich den ganzen Abend das Gefühl gehabt hatte, dass sich im lautlosen, finsteren Zimmer ein Sturm zusammenbraute…
Ab diesem Tag wurde die Klaviervariante des Requiems durch eine noch schlimmere – die Opernvariante – ersetzt. Das Requiem wurde jetzt von einem Furcht erregenden Frauenchor gesungen, die Kassette hatte Rena in irgendeinem Musikladen gefunden und gekauft. Es klang wie ein gegen uns Familienmitglieder, die wir nicht mal versucht hatten, die versteckten Talente von Rena zu entdecken, gerichteter, an ein Volksgericht erinnernder, anklagender Marsch.
Manchmal konnte ich diesen arroganten Frauenchor förmlich sehen, der mit dem Körper und der Stimme eines unvorstellbaren Riesen sang... Dies waren kräftige, großgewachsene, böse Nonnen, deren Gesichter mit durchsichtigen Schleiern bedeckt waren. Sie sangen das Requiem, während sie auf die riesigen Notenhefte schauten, und während sie sangen, wuchsen sie weiter, bis sie mit dem Kopf an unsere Decke stießen.
Wir waren alle besorgt über den Zustand von Rena, deren Antlitz erbleicht war, deren Körper erzitterte, konnten aber diesem unglücklichen Mädchen nicht aus dem Abgrund helfen, in die sie in ihrem eigenen Haus, im Umkreis ihrer Liebsten gefallen war. In diesen Momenten war eine Ansprache an Rena, oder nur ein unvorsichtiges Vorbeigehen fast genauso eine Sünde, als wenn man einen, der nach langen Folterungen eingeschlafen war und süße Träume hatte, weckte. Auch wenn wir es manchmal wagten, Rena wegen dieser krankhaften Musikabhängigkeit zu tadeln, begriffen wir an ihrem mit Kummer bedeckten Gesicht, an der in den Tiefen ihrer Augen festgesetzten Trauer, dass wir irgendwo einen Fehler machten, dass wir etwas nicht ganz verstehen konnten, dass diese vor Jahrhunderten im weiten Deutschland entstandene Musik sie uns wegnahm, sie vor unseren Augen an einem unerreichbaren, geheimnisvollen Ort festhielt.
Es war offensichtlich, dass Rena nicht mehr in ihr früheres, jugendliches Leben zurückkehren konnte. Ihre stundenlange Zurückgezogenheit, die ruhige Einsamkeit in ihrem Zimmer und der Versuch, sich von dort in eine andere Umgebung zu schmiegen, zeugten davon, dass sie ihr früheres, sorgenfreies, sonniges Kindsleben nicht mehr leben konnte.
So vergingen die Tage, jeden Abend nach der Arbeit fand ich unser Zuhause im altbekannten Zustand vor, wie in den Armen der Trauer nach der Besetzung durch fremde Invasoren, Rena wie einen ausgeknockten Boxer bäuchlings auf der Couch; dann setzte ich mich zu ihr und strich ihr vorsichtig übers Haar, küsste ihre denen eines Schwimmers ähnliche Schultern, dachte tausend Worte, um sie zu trösten, doch nichts half.
Eines Tages drehte sich Rena doch zu mir um und richtete ihre vom Weinen geschwollenen, eingefallenen Augen auf mich.
„ Ich kann nicht singen,“ sagte sie. „Man hat es überprüft, meine Stimmbänder sind schwach…“ Dann ließ sie sich wie vorhin bäuchlings fallen, und ich merkte am schwachen Zittern ihrer kräftigen Schultern, dass sie weinte.
An dem Abend steckten meine ältere Tochter und ich alle Kassetten zu Hause in eine Packung und versteckten sie an einer unerreichbaren Stelle im Schrank am Ende des Flurs. Am nächsten Tag beschlossen wir, dieses „ansteckende“ Bündel aus dem Haus zu schaffen.
Nach den Kassetten kehrte für einige Zeit Ruhe und Frieden in unser Zuhause ein, und wir waren einige Monate damit beschäftigt, die Spuren des Requiems zu verwischen, um die Wohnung, wo das Requiem sie mit seinen Schwingungen durch das Ändern der Stelle oder der Farbe einiger Sachen bis zur Unkenntlichkeit entstellt hatte, in ihren ursprünglichen Zustand zu bringen.
Wir bestellten eine Reinigungskraft und ließen die Zimmer vom Fußboden bis zur Decke reinigen, das Zimmer von Rena tauschten wir gegen das Zimmer ihrer Schwester. Um die Stimmung im Haus zu heben, begann die ganze Familie, zusammen jeden Abend Komödienfilme zu schauen, an Wochenenden aufs Land spazieren zu fahren. Häufig organisierten wir gemeinsame Abendessen, vom Requiem redete niemand mehr.
Rena glich einem Patienten, der nach langer Krankheit seine Kräfte verloren hatte… Sie aß tagelang nichts, lächelte fast nie, verlor kein Wort über Musik, an der Tür des Zimmers, in dem das Klavier stand, ging sie wie an einer tiefen Schlucht schnell vorbei, sah nicht mehr wie ein altgriechischer Philosoph aus.
Eine Weile ging so alles seinen Gang. Ich war glücklich. Auch wenn die qualvollen Tage der vergangenen Zeit in mir eine unerklärliche Angst vor klassischer Musik erzeugt hatten, beachtete ich diese nicht, jedoch spürte ich mit irgendeiner Zelle, dass diese geheimnisvolle Gefahr nicht vollständig verschwunden war, sondern sich in den Ecken unseres Zuhauses versteckt hielt und nur auf ihre Chance wartete.
Meine Gefühle belogen mich, wie immer, auch diesmal nicht.
Eines Tages, als ich von der Arbeit zurückkam, blieb ich von den bekannten Klängen des Requiems, die unseren Hof mit Trauer und Klage füllten, wie vom Donner gerührt stehen. Ich vergaß die Schwere der Einkaufstüten in meinen Händen und rannte in den Hauseingang, stieg eilig die Treppen hoch, stellte mir dabei die in unserem hintersten, mit Musik quellenden Zimmer einsam bäuchlings auf ihrer Couch liegende Rena vor und merkte, dass ich keine Luft bekam, als ob mir ein Stück Essen quer im Hals steckte.
Ich schloss die Tür auf und schob mich eilig hinein… und blieb stehen, während es mir vor Schreck vor den Augen dämmerte und mir schwindelig wurde.
Es war wieder hier, ging durch den Flur und stieß gegen die Decke, ließ die Wände und Türen erzittern… Die Stimme des Chors stieg immer weiter, als wollte mich der Umfang des Timbres vor die Brust drücken und hinausstoßen.
Meine Handgelenke und meine Knie wurden kraftlos. Die Einkaufstüten glitten mir aus der Hand, und ich ging schweren Schrittes Richtung Renas Zimmer, öffnete die Tür einen Spalt und ... war schockiert.
Die Couch, auf der Rena bäuchlings liegen sollte, war völlig leer.
Ich stürzte in andere Zimmer, danach in die Küche, schaute unter die Betten, suchte in den Schränken…
Es fehlte jegliche Spur von Rena. Sie war wie verschwunden.
Um die donnerähnlichen Schläge des Requiems abzuschalten, suchte ich unter Schwindel den Kassettenrecorder in den Zimmern.
Es gab auch keine Spur vom Kassettenrecorder.
Ich war wie benebelt und lehnte mich an die Wand.
Ich war unter den erzürnten Nonnen, deren Seelen voller Rachelust waren. Ich konnte nicht begreifen woher, aus welcher Seite des Hauses der Gesang kam, wohin Rena gegangen sein könnte, und ich dachte an den dunklen, bis zu den Wolken ragenden Turm der deutschen Kirche.
Deutsch von Mübaris Mamedov